Einführungsrede von Dr. Matthias Frehner, Direktor Kunstmuseum Bern
Ausstellung in der Galerie da Mihi
Andrea Bátorfi – „Unfolding”
Fotografie und Video
Vernissage vom Mittwoch, 7. August um 17.30 – 20.00 Uhr.
Sich diesen Abend mit der Kunst von Andrea Batorfi zu befassen, ist der denkbar grösste Gegensatz zum aktuellen Hochsommerklima. Wir lassen die lastend-klebrige, gleissende Hitze hinter uns und tauchen ein in die fliessenden, kühlen, blau-grünen Wasserwelten, in die Wolkenfelder, luftigen Baumkronen und atmosphärischen Weiten, die an Mark Rothkos Farbräume und James Turrells Lichtfelder erinnern. Ohne, dass wir die Kunst von Andrea Batorfi überhaupt erst als Ganzes analysierend wahrnehmen, umfängt sie uns wie die Gischt und das Rauschen eines tosenden Wasserfalls, den wir hören und auf unserer Haut spüren, noch ehe wir ihn sehen.
Die Foto- und Filmarbeiten dieser Künstlerin sind ungemein suggestiv. Das, was sie zeigen, hat immer verschiedene Ansichten und Sinnebenen. Ihre Bildgegenstände sind immer beides: Elementar, banal, alltäglich, wertlos sind die Gegenstände, die sie zeigen – Äste im Wind, Kieselsteine im seichten Wasser, dreckig aufgeweichten Schnee, Gräser in einer Wiese. Glitzernd, strahlend, flüchtig, betörend schön hingegen ist die Erscheinung dieser im Alltag übersehenen Gegenstände: Wenn auf ihnen das Licht schimmert, wenn es glitzert und gleisst, wenn die Bewegung des Windes und des Wassers immer neue Glanzlichter hervorzaubert.
Andrea Batorfis Kunst möchte ich mich auf verschiedenen Wegen nähern und Ihnen aufzeigen, wie sie entstanden ist, was sie bedeutet, wie sie in der aktuellen Gegenwartskunst einzuordnen ist. Doch zuvor gebe ich Antwort auf die Frage, die Sie sicher einige gestellt haben: Warum wohl gerade ich als Eröffnungsredner gewählt worden bin? Die Antwort ist: Weil mich die Kunst von Andrea in ihren Bann gezogen hat, weil es mir ein Anliegen ist, ihre Suggestivität zu ergründen, weil ich an dieser Kunst wirklich Freude habe. Andreas Kunst bin ich dank der langjährige Partnerschaft des Kunstmuseums Bern mit dem Museum der Schönen Künste in Budapest 2010 in einer Einzelausstellung im Kulturzentrum Milenar Park in der ungarischen Metropole erstmals begegnet. Sie hat mich spontan beeindruckt, und ich freue mich deshalb, dass dieses interessante Werk nach Ausstellungen in Barcelona, London und Tokio, die inzwischen stattgefunden haben, nun auch in der Schweiz gezeigt wird.
Die Ausstellung in Bern verdankt sich jedoch nicht nur der Tatsache, dass Batorfi heute eine international rezipierte Künstlerin ist, sondern auch deren ganz speziellen Vorliebe zur Landschaft der Schweiz. Wie die Dichter und Künstler des 18. und 19. Jahrhunderts haben Batorfi die Naturschönheiten der Schweiz angezogen. Goethe, William Turner oder auch Nietzsche reisten in die Schweiz, um die weltbekannten Sehenswürdigkeiten zu sehen; den Staubbachfall, den Rosenlauigletscher, die Jungfrau, die Teufelsbrücke, den Rheinfall, die Bergseen des Engadins. Von diesen früheren Schweizerreisenden kommt Batorfi Tuner am nächsten, denn diesen faszinierte nicht nur die spektakulären Landschaftsmotive an sich, sondern mehr noch die atmosphärischen Lichtstimmungen, die er dabei beobachten konnte. Diese wurden ihm in seinen Reiseaquarellen bald wichtiger als die pittoresken Felskaskaden der Wasserfälle. Die Aquarelle Turners, die sich mit der Formlosigkeit der Lichterscheinungen befassen, sind direkte Vorläufer der Abstraktion im 20. Jahrhundert, mithin auch der Naturrecherchen Batorfis.
Diese Künstlerin ist jedoch keine Aquarellisten. Sie hält ihre Natureindrücke nicht mit dem Pinsel, sondern mit der Kamera fest, was vielleicht auch Turner täte, lebte er in unserer Zeit. Was sie indes mit den Dichtern und Malern des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere auch mit den französischen Impressionisten teilt, ist ihre Begeisterung für die unendliche Vielfältigkeit der Erscheinung der Landschaft im Licht. Auch sie ist davon tief betroffen. Im Unterschied zu den Impressionisten interessiert sie sich nicht nur für die rein-optische Erscheinungsformen der Natur und ihrer Gegenstände, sondern auch für ihr inneres Wesen.
Andreas Vorgehen als Künstlerin besteht folgerichtig aus zwei getrennt verlaufenden Prozessen. Mit der Kamera begibt sie sich auf Motivsuche. Ihre Motive findet sie überall dort, wo in der Natur Veränderungen im Gang sind. Die Künstlerin sucht dabei nach Übereinstimmung. Zwischen ihrer inneren Befindlichkeit und dem Motiv muss sich ein harmonischer Einklang einstellen. Bewegungsabläufe spielen dabei die entscheidende Rolle. Im leisen Fliessen und Rinnen des Wassers, im Wippen der Baumkronen, dem Ziehen der Wolken, den permanenten Veränderungen des Lichts findet Andrea die Entsprechung zu ihrer physischen und psychischen Gestimmtheit.
Mit der Kamera hält sie die Momente der Übereinstimmung von Gesehenem und Gefühltem fest. Das Bild, das sie anschliessend vor sich hat, ist jedoch jedes Mal bloss ein Abbild der äusseren Erscheinung in Form eines fixen Standbildes, eine Momentaufnahme aus einem endlosen Ablauf. Und doch sind schon diese Naturstudien von betörender Schönheit. Es gibt ein solches Bild in unserer Ausstellung. Es zeigt in einer lichten Nebelstimmung, die alle Konturen verwischt, Gestalten neben einem mächtigen Baum. Der Baum trägt keine Blätter. Der Ort gibt nichts Preis. Ist man in einem Garten? In einem Wald? Auf einem Platz in einer Stadt? Alles ist möglich, nicht gewiss. Man ist überall und nirgendwo. Eine Stimmung wie im Traum. Das Gefühl, das die als Phantome in Erscheinung tretenden Gestalten und das leere Baugerippe vermitteln, oszilliert zwischen Geborgenheit und Verlorenheit. Die spezifische Unschärfe dieser Aufnahme suggeriert permanente Veränderung. Die diffuse Helligkeit flackert wie Kerzenlicht. Ich bin überzeugt, mit diesem wunder- geheimnisvollen piktorialitischen Stimmungsbild hat die Künstlerin einen eigenständigen Beitrag zum aktuellen Diskurs über Unschärfe und Malerei in der aktuellen Fotoszene geschaffen.
Doch solche Momentaufnahmen sind für Andrea Batorfi nach einer ersten Schaffensphase nur mehr Zwischenschritte zu einer anderen Kunstform. In dieser entstehen aus collagierten und transformierten Fotos Computerbilder, die Lebensprozesse nicht bloss im eingefrorenen Standbild suggerieren, sondern das Fliessen der Natur direkt erfahrbar machen.
Maler wie Cézanne und Hodler purifizierten ihre Natureindrücke. Das Weglassen aller Zufälligkeiten, das Herauslösen der übergeordneten Formzusammenhänge mittels der Betonung von Horizontalen, Vertikalen und geometrischen Grundformen bringt in ihrer Kunstauffassung das ewig Gültige zum Ausdruck.
Batorfi will auch Gesetze sichtbar machen. Jedoch nicht durch reduktive Vorgänge, an deren Ende ein Axiom steht. Nicht das statisch-Endgültige ist ihr Ziel, sondern die Bewegung, die permanente Veränderung. Ihre Abstraktionsvorgänge gehen deshalb in die umgekehrte Richtung: statt Reduktion, Auffächerung, Vervielfachung, Aufsplitterung, Expansion. Ihre ersten acht bis zehn Schaffensjahre widmete sie sich hauptsächlich der Einzelfotografie. Im Projekt „Unfolding“ zieht sie die Synthese. Zu ihrem Vorgehen zitiere ich die Künstlerin selbst: „Mithilfe meiner damals entwickelten Methode – Spiegelung und Mehrfachbelichtung – wollte ich Durchgänge öffnen, wollte ich jene besonderen, feinen, unbegreiflichen Gefühle und Gemütswandlungen zum Ausdruck bringen, die ich auf meinen Spaziergängen erleben hatte und weiterhin ständig in der Natur verspüre.“
Die „Unfolding“-Bilder entstehen am Bildschirm. Zur Methode der Überblendung und vertikalen Spiegelung des Fotomaterials kommt das Verfahren des Morphings. Dieses ermöglicht es, Einzelbilder durch gezielte Verzerrungen in einem zeitlichen Ablauf dynamisch ineinander übergehen zu lassen. Weiter hat sie ihre „Unfolding“-Bilder auch als Video und Lentikular-Aufnahmen inszeniert. Bevor wir uns den Bildern zuwenden noch eine Erklärung zum Lentikular-Verfahren. Bei diesem wird mittels winziger optischer Linsen ein dreidimensionaler, bewegter Eindruck erzeugt.
Tauchen wir also ein in die Welt der „Unfolding“-Bilder. Ich kenne in der Gegenwartskunstszene keine Werke, die sich mit diesen Bildkosmos vergleichen liessen. Andrea Batorfi hat etwas vollkommen Neues geschaffen. Von den vertikalen Spiegelachsen gehen dynamische Formverläufe aus. Je nachdem wie die Hauptrichtungsverläufe angelegt sind, eröffnen sich unterschiedliche Assoziationsfelder. Die symmetrischen Verdoppelungen lassen an Wesen denken, an Gesichter, Masken, die sich in Verpuppungsprozessen befinden. Andere Bilder erinnern an Architektur; an gotisches Masswerk und aufsteigende Türme, aber auch an Pflanzen und Bäume im Wachstum. Lichtphänomene, die aus den Wasser- und Himmelsfotos stammen, spielen die entscheidende Rolle in den inszenierten Veränderungsprozessen. Sie verschaffen den linearen Strukturen, die sich primär flächig ausdehnen, Tiefenräumlichkeit. Dadurch verwandeln sich die Vertikalspiegelungen in Portale, die sich in die Tiefe entwickeln wie die Farbräume von Rothko oder die Lichtinstallationen von Turrell. Die Künstlerin macht mit ihren Bildern organisches Wachstum zum Thema. Sie vergegenwärtigt Übergänge. Sie verwandelt Flächenornamente in Empfindungsräume. Die grossen Lebensgesetzte – Werden-Sein-Vergehen – werden eindrücklich neu erfahrbar gemacht.
Andrea Batorfi nimmt ab diesem Spätsommer für ein Jahr Wohnsitz in der Schweiz. Ich freue mich, dass sie die Foto- und Videoszene mit ihrem starken Werk virulent beleben wird.